Heute nachdenklich und selbstkritisch – Mini-Exkurs Zufälle

Seit einigen Tagen beschäftigt mich eine Frage, die ich mir zuvor noch nicht gestellt habe: Bin ich unpolitisch? Ich glaube, dass ich darauf mit „Ja“ antworten muss.

Es fing mit einem zum Nachdenken anregenden Gespräch an, das ich vor einigen Tagen mit Hannas Mama (Hanna ist eine Freundin aus Berlin und ihre Eltern wohnen in Mexiko Stadt) geführt habe. „Man bekommt davon nichts mit.“, war der Kernsatz unserer Erkenntnis, dass wir von der Gewalt, dem undemokratischen Land, den Auseinandersetzungen der kriminellen Banden, dem narcotráfico, der Armut, den Ständeunterschieden – wo fängt diese Liste an, wo hört sie auf? – nichts bemerken. Wie ist das eigentlich möglich? Ich lebe jetzt seit drei Monaten hier, wie es scheint in einer Blase, gemütlich in den hippen Vierteln der Stadt herumhopsend, ohne mir bewusst zu sein, wie viel Kriminalität, Brutalität und Ungerechtigkeit hier jeden Tag passiert. Denn ich sehe davon nichts. Die Armut kann ich höchstens mal von der Ferne aus dem Auto heraus erahnen, wenn man Mexiko Stadt verlässt und an den Elendsvierteln vorbeifährt. Und von den kriminellen Machenschaften und Bandenkriegen bekommt man nichts mit, erst recht nicht, wenn man sicher nachts im uber nach Hause kutschiert wird. All die Nachrichten, die die Presse herausspuckt, all die Toten, all die Brutalität – wo passiert das? Und in wie weit erzählt mir die Presse die Wahrheit? Momentan gibt es große Aufruhre im Bundesstaat Oaxaca, wo eine Vereinigung von Lehrern gegen Reformen protestiert. Inzwischen gibt es mindestens sechs Tote – erschossen von Polizisten, die direkt auf die protestierende Menge geschossen hat. Das habe ich allerdings nicht aus offizieller Quelle erfahren, sondern von im Internet publizierten Videos, die diese von der Regierung unterstützten Gräueltaten beweisen (ein Polizeisprecher beharrt darauf, dass die Polizisten gar keine Waffen mit sich geführt hätten). Inzwischen haben auch einige Medien Videos und Artikel publiziert, in denen von den Schüssen der Polizisten die Rede ist, zum Beispiel la jornada. Oaxaca mit seinem großen Prozentsatz indigener Bevölkerung zählt zu den ärmsten Gegenden Mexikos – und was kenne ich davon? Den paradiesischen Strand, die Surfer, die günstige Happy Hour und gutes Essen. Ist das nicht paradox?

Ich bin unpolitisch, wenn ich in einem korrupten, undemokratischen Land lebe, meine Augen verschließe und mein gemütliches Leben mit all seinen Vorzügen genieße – meine Arbeit, mein Yoga, das Capoeira, das viele Ausgehen abends, das Reisen. Ja, es mag sein, dass die Meisten um mich herum auch in dieser Blase leben, aber macht es das besser? Meine Eindrücke dieser Stadt, dieses Landes, das ich schon so lieben gelernt habe, werden stets einseitig sein, weil ich es durch die Augen der weißen, privilegierten Europäerin sehe. Oder nicht?

Was heißt eigentlich politisch sein? An Demonstrationen teilnehmen, neue antikapitalistische Konzepte entwerfen und umsetzen, sich für seine Ideen einsetzen und diese mutig offiziell zu proklamieren? Und wie kann man „gut“ politisch sein?

Mir sind immerhin zwei Dinge eingefallen, die ich praktiziere und die man glaube ich als politisch bezeichnen kann:

1: Dass ich keine neue Kleidung kaufe, sondern nur secondhand, Flohmarkt und Freundin’s Kleiderschrank bediene – persönlicher, antikapitalistischer Miniboykott gegen die furchtbaren Arbeitsbedingungen der Kleiderindustrie und den Shoppingwahn der westlichen Welt

2: und dass ich seit nun 7 Jahren vegetarisch lebe und so immerhin ein winziges bisschen gegen die barbarische Massentierhaltung und alles, was mit dem Konsum von Fleisch zusammenhängt, protestiere.

Ich würde mich über Feedback und Anregungen freuen, von Allen, die sich besser auskennen, als politisch bezeichnen würden oder wissen, was es eigentlich heißt, politisch zu sein und die mir helfen können, zu verstehen, wie man tatsächlich etwas verändern kann und seinen Blickwinkel ändern kann. Danke!

 

 

Mini-Exkurs Zufälle

Am Wochenende sind mir gleich drei wundersame zufällige Begegnungen unterlaufen. Als Erstes werde ich auf der Straße mit einem „Julia!“-Ruf gestoppt – ein Mexikaner, den ich mal auf einem Konzert kennengelernt habe, spaziert eben mit seiner Mutter und ihrem Pudel durch genau die Straße, durch die ich gerade eile. Wir stellen fest, dass wir fast Nachbarn sind (ich bin vergangene Woche umgezogen) und verabreden uns für die Tage mal zum Pizzaessen im Restaurant seines Bruders gleich um die Ecke. Nachts bin ich unterwegs auf einer Party, die auf einem überdachten Parkplatz stattfindet – in einer Gegend, in der ich sonst nie bin – und laufe dort einem meiner neuen Mitbewohner über den Weg. Am Sonntagabend schließlich stehe ich im Kassenhäuschen unseres Theaters, um Karten zu verkaufen. Gezeigt wird an diesem Abend ein Stück unserer Schauspiel-Studenten, die in den letzten Monaten bei uns am Theater Schauspielunterricht genommen haben. Ich staune nicht schlecht, als eine Freundin vom Capoeira Karten kauft und finde heraus, dass ihre Schwester seit Monaten bei uns den Schauspielkurs belegt. Liebe Leute, diese Stadt hat über 20 Millionen Einwohner und ist wirklich enorm riesig – soll ich da noch an Zufälle glauben?

3 Gedanken zu “Heute nachdenklich und selbstkritisch – Mini-Exkurs Zufälle

  1. Ja was heißt politisch sein? Sicher eine gute, dennoch schwierige Frage,- auf die es keine einfache Antwort gibt. Ich denke,- bei sich selber anfangen,- wenn auch nur im kleinen möglich… Doch wenn viele genau das auch tun,- ist es schon ein großer Schritt. Für einen selber ein kleiner,- doch für die Menschheit ein größerer. Keiner von uns kann diese Welt alleine retten, wir sind nur ein kleines Rädchen in diesem System. Sich darüber im Klaren sein, wie sehr wir privililgiert wir doch sind…und die Augen offen halten….

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  2. Kenne das Gefühl gut, als kleiner Punkt vor dem riesigen System zu stehen und nicht zu wissen, wo man anfangen soll. Schließe mich meiner Vorposterin an: fang bei dir selbst und deiner unmittelbaren Umgebung an.

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  3. „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung“ heißt es ja. Das mit dem Erkennen der Seifenblase hab ich auch als ganz wichtigen Schlüsselmoment erlebt. So wie deine hippen Viertel Blasen die Blase in Mexiko ist, innerhalb derer ein sicheres und komfortables Leben die Norm ist, ist Deutschland/Europa sowas wie eine Blase in der Welt. Unangenehmes – Ausbeutung, Gewalt etc., lagern wir einfach aus; „innen“ leben wir ein Leben, das uns von allem „außerhalb“ so weit entfremdet, dass wir ernsthaft denken, es gäbe ja auch keinen triftigen Grund, kritisch und politisch zu sein.
    Ja, wir sind verdammt unpolitisch. Party, Reisen und “Selbstverwirklichung“ füllen uns ja auch so aus, dass für kritische Reflektionen gar keine Kapazitäten mehr übrig sind. Und nur in unseren Blasen können wir übrigens auch ernsthaft glauben, dass wir durch bewussten Konsum und vegetarisch essen „was bewegen“. Das soll gar nicht heißen, dass das alles nicht gut und wichtig wäre, natürlich sind die kleinen Dinge und das Verhalten jedes Einzelnen „wichtig“.
    Aber sind diese Sachen nicht oft mehr hippe Lifestyle-Komponenten als dass irgendwas verändern? Wir fühlen uns so gut und verantwortungsbewusst damit, haben unser Gewissen beruhigt und uns allen ernsthafteren Reflektionen wieder mal elegant entzogen. Und die Spitze der Ironie ist dann, wenn sowas wie alternativer Konsum etc. dann zur Mode, zur hippen Nische und zum Hobby wird und der Lifestyle-Aspekt den der bewussten Entscheidung dazu ablöst.
    Ich finde auf jeden Fall, dass wir, wie du sagst, da viel, viel, viel selbstkritischer sein müssen. Sich bewusst werden, aufmerksam werden, sich Zeit nehmen zum Nachdenken und Reflektieren ist krass wichtig…nicht alles an uns vorbeiziehen lassen, auch mal Stellung nehmen, auch wenn das anstrengend ist. Ich denke, als Deutsche in Mexiko ist wichtig, wenn schon nicht aus der Blase auszubrechen, dann doch wenigstens rauszuschauen, sich zu informieren und mit den Mexis auszutauschen (Ausländern ist es in Mexiko gesetzlich untersagt, an politischen Veranstaltungen teilzunehmen; ich glaube, man wird dann ausgewiesen, also schließ dich vielleicht nicht gleich dem schwarzen Block auf der Demo an 🙂 ) Halt uns doch zum Beispiel mal über deinen Blog über die Ereignisse in Oaxaca auf dem Laufenden! Und wenn du was tun, mit Leuten sprechen, dich austauschen willst, geh doch vielleicht mal an die UNAM? Dort finden viele Diskussionen, Veranstaltungen, Versammlungen statt und man kommt mit kritischen und politisch aktiven Studenten in Kontakt. Sicher mehr als in Yoga-Studios und hippen Bars in La Roma. Ich drück dich ganz fest!

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